Dem Patenkind sind Schuhe besonders wichtig. Nach Gesprächen mit Flüchtlingen in der Schule kombiniere ich, wieso Schuhe so bedeutend sind: „Ich musste über die Berge in den Libanon wandern“, sagt jemand plötzlich ganz nebenbei. „Zu Fuß über das Gebirge in die Türkei“ sind andere gelangt. „Durch Minenfelder gelaufen“ wieder andere. Auch wer in rasender Eile über ein meterhohes Gitter klettern musste, wird fortan gutes Schuhwerk zu schätzen wissen.
Und so seh ich das Patenkind, wo immer wir auch einkaufen, an den Schuhen stehen. Zuletzt bei Aldi, wo er nicht anders konnte, als sich für 9,99 Euro ein paar Tennisschuhe zu kaufen. (Ich: Kopf auf Tisch)
Mir ist auch aufgefallen, dass erstaunlich viele Jungen irgendwas an den Füßen haben. „Schade, ich werde nie mehr Fußball spielen können“, sagt z. B. einer. Unterwegs seien ihm beide Füße eingequetscht worden.
Und Kopfschmerzen. Daran habe ich mich schon gewöhnt, dass jemand sagt: Ich konnte nicht mitgehen, ich hatte Kopfschmerzen. Oder klagt: „Ich bekomme schreckliche Kopfschmerzen, wenn ich über meine Mutter spreche“. Oder: „Ich denke immer an meinen Bruder, mein Kopf ist so voll, da geht nichts mehr rein.“
Die Wahrheit ist: Es gibt junge Flüchtlinge, die haben Anschläge in der Heimat und die Flucht überlebt, aber sie sind manchmal gar nicht glücklich in Deutschland. Sie haben Heimweh, vermissen ihre Mütter, ihr gewohntes Essen, sie haben panische Angst, dass jemand ihnen heimlich Schweinefleisch ins Essen mischt, sie telefonieren mit Verwandten, die zurückgelassen wurden oder in andere Gegenden der Welt geflüchtet sind und fühlen sich ohnmächtig. Sie weinen manchmal nachts oder machen Krach, die Nachbarn hören das und fühlen sich von beidem gestört. Manche schicken kleine Geldbeträge oder Medikamente „nach Hause“. Die Welt in Deutschland erscheint ihnen manchmal unübersichtlich, kompliziert, jeden Tag gibt es etwas Neues, das sie erschreckt.
Und dann die Mädchen und Frauen . . . Frauen, die arbeiten. Frauen, die laut lachen. Nackte Beine, nackte Arme, offene, lange Haare. Alles zum krass Fremdschämen, das Patenkind schaut betroffen in die Luft. Anfangs habe er gedacht, er hätte sich doch besser von den Taliban totschießen lassen sollen,“als das zu sehen, was ich hier sehen muss“, sagt in dem neuen Aachener Kurzfilm (sehr guter Text hier: „Um zu leben“) sinngemäß ein Junge.
Was Europäer ganz normal und sogar schön finden, ist für manche Jungen zunächst der Gipfel der Unmoral und Schamlosigkeit.
Doch sie gewöhnen sich an das Leben in Aachen, und sie lieben es, und ich weiß, dass die Lehrer/innen und die Paten und Patinnen ihnen helfen.
Die meisten Flüchtlinge gewöhnen sich sogar schnell, so scheint mir. Als das ewig unpünktliche Patenkind zum ersten Mal hektisch, aber pünktlich zum Treffen erscheint, da habe ich (extra) hocherfreut ausgerufen: „Super, du bist pünktlich, genau wie ein deutscher Junge.“ Wir mussten lachen, der Junge hat die Ironie verstanden und sich sehr gefreut. Seitdem ist das mit dem Unpünktlich vorbei.
(wird fortgesetzt)
Ein Flüchtling hat folgende Zeilen geschrieben
Update 09.08. Zum Weiterlesen ein passender Text aus der Süddeutschen
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